Kritische Demobeobachtung: Bericht zur „Revolutionären 1. Mai“-Demo

Im Folgenden berichten wir über unsere Beobachtungen während der Demonstration und zur Auflösung der Versammlung. An den Beobachtungen waren Menschen der Kritischen Demobeobachtung Berlin und der Kritischen Jurist*innen FU beteiligt. Der Bericht wurde von uns gemeinsam geschrieben.

Dem Bericht stellen wir einen kurzen Kommentar zur Versammlungsfreiheit an diesem Tag mit Fokus auf die Allgemeinverfügung der Polizei für den Bereich des ehemaligen MyFests in Kreuzberg rund um die Oranienstraße voran und schließen den Bericht mit einem Statement unsererseits, in dem wir auf die polizeilichen Maßnahmen und die mediale Nachbereitung der Ereignisse des Tages aus der Perspektive des Grundrechts für Versammlungsfreiheit eingehen.

 

Zur Allgemeinverfügung der Polizei das Gebiet des ehemaligen MyFest betreffend

Am 28.04.2021 veröffentlichte die Polizei per Pressemitteilung (https://www.berlin.de/polizei/polizeimeldungen/2021/pressemitteilung.1079781.php), dass der Gemeingebrauch von öffentlichen Flächen in einem begrenzten Bereich in Friedrichshain-Kreuzberg in der Zeit von Samstag, 1. Mai 2021, 6 Uhr bis Sonntag, 2. Mai 2021, 6 Uhr eingeschränkt sei. Der Bereich umfasst grob das Gebiet des ehemaligen MyFest. In diesem Bereich war das Mitführen von Getränkeflaschen und -dosen mit Ausnahme von PET-Flaschen bis 0,5 Liter, auch von außen in diesen Bereich hinein, untersagt. In Folge dessen wurde das genannte Gebiet mit Absperrgittern (ASG) umzäunt und der Zugang zu dem Gebiet von Polizeikräften überwacht. Begründet wurde diese Maßnahme „anlässlich mehrerer angezeigter Versammlungen.“

Wir kritisieren diese Maßnahme aufs Schärfste! Zu ihrer Begründung wurde das Abhalten mehrerer Versammlungen herangezogen, neben der „Revolutionären 1. Mai“-Demonstration waren im Gebiet der Allgemeinverfügung je eine Kundgebung am Lausitzer Platz und auf dem Mariannenplatz angemeldet. Versammlungsfreiheit ist ein hohes Rechtsgut, die Aufgabe der Polizei ist es, dieses zu gewähren. Mit dem Erlass der Allgemeinverfügung und deren Umsetzung durch weiträumige Absperrungen des Gebietes mit ASG wurde die ungehinderte Teilnahme an der Versammlungen im Bereich der Allgemeinverfügung verhindert, Menschen von der Teilnahme an den Versammlungen abgeschreckt. Außerdem ist es in Hinblick auf die in dem Gebiet stattfindenen Versammlungen unnötig, ein weiträumiges Getränkeflaschen- und -dosenverbot zu erlassen. In der Regel sind in Berlin das Mitführen von Glasflaschen auf Versammlungen in Berlin per Auflagenbescheid für die jeweiligen Versammlungen verboten. Eine Ausweitung dieses Verbots auf Getränkeflaschen über 0,5 Liter ist absurd und außerdem unverantwortlich. Teilnehmer*innen von Versammlungen mit mehrstündiger Dauer muss die Möglichkeit eingeräumt werden, genügend Flüssigkeit zu sich zu nehmen. 0,5 Liter sind dafür nicht ausreichend.

Das Verbot des Mitführens von Getränkeflaschen und -dosen diente bereits im Vorfeld dazu, implizit ein Bild zu erzeugen, dass an dem Tag mit Ausschreitungen durch die Versammlungen zu rechnen sei. Dies stellt eine politische Einflussnahme der Polizei auf die öffentliche Debatte dar. Indem sie die Allgemeinverfügung damit begründet, dass Versammlungen stattfinden, wird ein implizites Bild davon erzeugt, dass diese Versammlungen einen gewalttätigen Verlauf nehmen könnten. Damit werden Menschen von der Teilnahme an diesen Versammlungen abgeschreckt und dem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit eklatant entgegengewirkt. Während in den vergangenen Jahren das MyFest als angemeldete Versammlungen in dem Gebiet stattfand und dieses wie im letzten Jahr pandemiebedingt ausfallen musste, entsteht für uns der Eindruck, dass die Allgemeinverfügung der Polizei dieses Jahr die Aufgabe des ehemaligen MyFests erfüllen sollte. Damit überschreitet die Berliner Polizei bei weitem ihre Kompetenzen. Die Polizei ist keine politische Akteurin. Als Teil der Exekutive, die für die Durchsetzung des Gewaltmonopols des Staates sorgen soll, hat sie nicht die Aufgabe, als politische Akteurin zu agieren und per Allgemeinverfügung nicht stattfindende Versammlungen zu ersetzen.

 

Bericht zur Demonstration

Wir waren ab ca. 17:30 Uhr auf der „Revolutionären 1. Mai Demonstration“ am Hermannplatz mit zwei Teams, bestehend aus Menschen der Kritischen Demobeobachtung Berlin und der Kritischen Jurist*innen FU Berlin, präsent. An der Demonstration beteiligten sich ca. 25.000 Menschen. Die Demonstration, die über die Karl-Marx-Straße, Sonnenallee, Wiener Straße, Oranienstraße bis zum Oranienplatz ziehen sollte, wurde auf der Sonnenallee ca. Höhe Weichselstraße vorzeitig beendet. Eines unserer Teams beobachtete den Verlauf des Versammlungsgeschehens an der Spitze der Demonstration, das zweite Team befand sich an deren Ende. Aufgrund der Größe der Demonstration fließen zur Komplettierung unseres Berichts auch Medienberichte und Informationen aus Social Media Kanälen ein.

Um ca. 17:30 Uhr näherten wir uns dem dem Startpunkt der Demonstration, auf dem zu dem Zeitpunkt noch eine Kundgebung stattfand, aus Richtung Kottbusser Tor kommend. Bereits an der Ecke Kottbusser Damm / Sonnenallee war für uns ersichtlich, dass sich mehrere tausend Menschen versammelt hatten, der Antreteplatz gut gefüllt war und es schwierig werden würde, die laut Infektionsschutzgesetz vorgeschriebenen Abstände einzuhalten, vor allem auch, weil immer mehr Menschen Richtung Antreteplatz strömten. Gleichzeitig mussten wir feststellen, dass der Verkehr auf der Sonnenalle Richtung Hermannplatz noch lief. Dies stellte eine unmittelbare Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit der Demonstrationsteilnehmenden dar. Zum einen, weil wegen des Zustroms von immer mehr Menschen auf den Hermannplatz deren Gefährdung durch den fließenden Verkehr nicht ausgeschlossen werden konnte, zum anderen weil es immer schwieriger wurde, Abstände einzuhalten. Die Polizei war mit genügend Kräften vertreten, um dafür zu sorgen, den Verkehr weiträumig um den Hermannplatz umzuleiten. Insbesondere die Öffnung des Kottbusser Damms für die Versammlungsteilnehmenden hätte die Einhaltung des Mindestabstands gewährleisten können. Es ist für uns unverständlich, weshalb dies von Seiten der Einsatzführung nicht gemacht wurde. Das Grundrecht auf Versammlungfreiheit ist ein höheres Rechtsgut als die Straßenverkehrsordnung, weshalb der Verkehr zu diesem Zeitpunkt weiträumig um die Hermannplatz zugunsten der Kundgebung hätte eingeschränkt werden müssen. Nicht zuletzt allein deshalb, um die körperliche Unversehrtheit der Teilnehmenden zu gewährleisten. Insofern handelte die Einsatzführung zu diesem Zeitpunkt bereits unverantwortlich.

Wie wir später Medienberichten entnehmen konnten, wurde ca. zu diesem Zeitpunkt die aus dem Grunewald kommenden Fahrraddemonstration auf Höhe der Boddinstraße vorzeitig durch die Polizei aufgelöst mit der Begründung, es seien bereits zu viele Menschen auf dem Hermannplatz versammelt. Ursprünglicher Endpunkt der Demonstration war die Kundgebung am Herrmannplatz. Angesichts dessen, dass die Polizei wie beschrieben den zur Verfügung stehenden Platz für die Kundgebung nicht erweiterte, ist die vorzeitige Beendigung der Fahrraddemonstration nicht zu rechtfertigen und stellt einen klaren Verstoß gegen das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit dar.

Ab ca. 17:35 Uhr waren wir in der Karl-Marx-Straße in unmittelbarer Nähe zum Hermannplatz, um den Start der Demonstration zu beobachten. Ab 17:47 Uhr haben wir beobachtet, wie ein dort abgestellter Kamerawagen der Polizei mit dem amtlichen Kennzeichen B-NK 2349 begann, die Kundgebung in Richtung Hermannplatz abzufilmen. Laut dem Berliner Versammlungsfreiheitsgesetz (VersFG BE) sind Filmaufnahmen nur noch nach erheblicher Gefährdung für die öffentliche Sicherheit erlaubt (§18 Abs. 2 VersFG BE). Diese lag zu dem Zeitpunkt nicht vor. Auch eine eventuelle Begründung mit der Gefährdung der Gesundheit der Versammlungsteilnehmer*innen durch ggf. nicht eingehaltene Abstände ist nicht ausreichend. Denn wie oben beschrieben, hätte es zu diesem Zeitpunkt die Möglichkeit gegeben, die Situation durch die Gewährung von mehr Raum zu entzerren. Auch auf der Karl-Marx-Straße hätte es diese Möglichkeit gegeben. Auch hier wurde zu diesem Zeitpunkt diese Möglichkeit von der Polizei nicht eingeräumt. Das Abfilmen der Kundgebung war damit rechtswidrig.

Um 18:38 Uhr setzte sich die Spitze der Demonstration auf der Karl-Marx-Straße in Bewegung. Vorneweg wurde die Demonstrationen von behelmten Beamt*innen der 11. Einsatzhundertschaft (EHU) und dem filmenden Kamerawagen begleitet. Nach wenigen Minuten stoppte der Frontblock kurz und setzte sich wieder in Bewegung. Mittlerweile wurde die entstandene Lücke von Demonstrierenden geschlossen. Um 19:04 stoppte der Frontblock erneut. Als Begründung für den erneuten Stopp wurde uns mangelnde Verkehrssicherung angegeben. Aus den Seitenstraßen seien Autos auf die Aufzugstrecke gefahren. Wie es dazu kommen konnte, ist uns unverständlich. Aufgabe der Polizei ist es, den reibungslosen Ablauf von Versammlungen und die Sicherheit der Teilnehmenden zu gewährleisten. Grundlage dafür ist es, den Verkehr zu regeln. Offensichtlich kam die Polizei trotz ausreichender Kräfte vor Ort dieser Aufgabe zu diesem Zeitpunkt nicht nach und riskierte damit die körperlicher Unversehrtheit der Teilnehmenden.

Nach einigen Minuten konnte die Demonstration fortgesetzt werden und erreicht um 19:28 Uhr die Erkstraße. Währenddessen strömten die Menschen vom Hermannplatz auf die Demonstrationsroute, die Demonstration kam immer wieder ins Stocken und staute sich auf. Deshalb war es an manchen Punkten schwierig, Mindestabstände einzuhalten. Grund dafür ist auch die fehlende Verkehrssicherung der Polizei.

Ein weiterer Grund dafür ist eine Engstelle auf der Karl-Marx-Straße auf Höhe der Neukölln-Arcaden. Dort befindet sich eine Großbaustelle, die die Straße an dieser Stelle auf eine Fahrbahn beschränkt und dafür sorgte, dass sich an dieser Stelle ein Rückstau in der Demonstration bildete. Diese Baustelle ist offensichtlich nicht erst kurzfristig errichtet worden. Sie muss der Einsatzleitung bei der Einsatzplanung bekannt gewesen sein. Unser Team im hinteren Teil der Demonstration hat um 19:35 beobachtet, dass aus einer Seitenstraße kommend Lautsprecherdurchsagen gemacht wurden, die zur Einhaltung der Mindestabstände aufforderten. Angesichts der Engstelle auf der Demonstrationsroute war diese Aufforderung absurd, besonders auch, weil sich zu diesem Zeitpunkt der Demonstrationszug vollständig formiert hatte und hinten begleitende Polizeifahrzeuge und -einheiten eine Entzerrung des Demonstrationszuges unmöglich machten.

Uns ist unverständlich, wie die Demonstration entlang dieser Engstelle führen konnte. Die Polizei trägt die Verantwortung dafür, dass ein reibungsloser Ablauf von Demonstrationen möglich ist. Bei der im Vorfeld angemeldeten Teilnehmer*innenzahl im fünfstelligen Bereich ist anzunehmen, dass es an dieser Stelle zu Stockungen kommt und in der Folge Mindestabstände nicht mehr eingehalten werden können. Deshalb wurden von Seiten der Polizei in den vorangegangenen Jahren bei Großdemonstrationen, die nicht unter Pandemiebedingungen stattfanden, Routenänderungen vorgenommen, um solche Engstellen zu vermeiden. Dies stellt zwar einen Eingriff in das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit dar, wurde aber mehrfach durch gerichtliche Entscheidungen als zulässig bestätigt. Auch und vor allem zu Pandemiezeiten hätte deshalb der Polizei auch für die Route dieser Demonstration diese Instrument zur Verfügung gestanden, nicht zuletzt, um die körperliche Unversehrtheit der Teilnehmenden zu gewährleisten. Dass sie dieses nicht nutzte, ist fahrlässig.

Um ca. 19:40 Uhr trennte die Polizei den hinteren Teil der Demonstration mittels eine Polizeikette auf Höhe ca. Rathaus Neukölln unmittelbar nach der Baustelle ab. Zu diesem Zeitpunkt war eine hohe Zahl an Polizeikräften an der Seite der Demonstration vor der Baustelle und am Ende der Demonstration aufgezogen. Dieses Maßnahme der Polizei kam für uns überraschend und ohne jeglichen ersichtlichen Anlass. Wie wir später aus den Medien erfahren konnten, erfolgte diese Maßnahme aufgrund von Verstößen gegen das Infektionsschutzgesetz. Mund-Nase-Bedeckungen seien nicht getragen worden, Abstände seien nicht eingehalten worden. Dem widerspricht deutlich ein Bericht der RBB Abendschau vom gleichen Tag. (vgl. https://www.rbb-online.de/abendschau/videos/20210501_1930.html ab Minute 3)

Wie wir im Nachhinein durch unsere Auswertung der relevanten Social Media Kanäle und Hashtags erfahren haben, fand im mittleren Teil der Demonstration eine weitere ähnliche Maßnahme der Polizei statt. Den genauen Ablauf können wir nicht rekonstruieren. Bei dieser Maßnahme wurde aber der Lautsprecherwagen der Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ gestürmt.

Um 19:48 Uhr hat die Spitze der Demonstration auf Höhe der Sonnenallee 71 wegen der stattfindenden Polizeimaßnahmen gestoppt. Die vornweg laufende Kette der 11. EHU hat im Zuge dessen den Abstand zur Demonstration von 50 auf 20 Meter verringert. Aufgrund der nachströmenden Demonstrationsteilnehmenden wurde der Abstand zwischen den Menschen um den Frontblock herum zunehmend enger. Unser Team fragte den Kontaktbeamten, ob die Kette sich ein wenig zurückziehen könne, um das Einhalten der Abstände zu ermöglichen. „Wir schauen mal“ war die Antwort. Ca. 8 Minuten später dann unsere Rückfrage, ob ein größerer Abstand der 11. EHU möglich sei. Die Antwort: „Das geht schon, aber das werden wir aus taktischen Gründen nicht machen.“

Kurz vor 20:30 Uhr setzte sich die Spitze der Demonstration wieder in Bewegung, die Kette der 11. EHU hielt wieder etwas mehr Abstand. Auf der rechten Fahrbahn wurde Höhe Sonnenalle Nr. 51 eine größere Gruppe an Einheiten sichtbar. Die Spitze erreichte die Jansastraße. Die beobachteten Einheiten befanden sich plötzlich im Vollsprint. Die Kette der 11. EHU vor der Demospitze teilte sich in der Mitte und öffnete den Weg für die heransprintenden Einheiten, die mit hoher Geschwindigkeit die Versammlungsteilnehmenden angreifen. Eine Grundlage für diese massive Anwendung unmittelbaren Zwangs war für unser beobachtendes Team zu diesem Zeitpunkt nicht ersichtlich. Auch erfolgte keine vorherige Durchsage vonseiten der Polizei. Bis heute konnten wir keinen Äußerungen der Einsatzleitung oder Medienberichten eine Erklärung für den Angriff auf die Demospitze entnehmen.

Unser Team im hinteren Teil der Demonstration versucht währenddessen, den Demonstrationszug über die Fuldastraße zu verlassen. Wegen der Abtrennung des hinteren Teils der Demonstration war es dort eine beklemmende Situation entstanden. Teilnehmende, teils mit Kinderwägen, versuchten die Demonstration zu verlassen, was aber Aufgrund der Enge nur schwerlich möglich war. Die Maßnahme der Polizei hat die Situation an dieser ohnehin kritischen Engstelle weiter verschärft. Nur den besonnenen Reaktionen der Teilnehmenden ist es zu verdanken, dass an dieser Stelle keine Massenpanik entstand. Um 20:26 Uhr mussten wir feststellen, dass der reibungslose Abfluss aus dieser Situation durch Beamt*innen der 31 EHU an der Einmündung der Fuldastraße erschwert wurde. Der Weg dorthin war ohnehin nur über den Fußgängerweg möglich, weil der Rest der Fuldastraße an dieser Stelle ebenso wie die Karl-Marx-Straße Baustelle war. Die Beamt*innen der 31. EHU versperrten den Abfluss von der Demonstration mit einer Kette und ließen erst auf unseren Hinweis hin, dass das jederzeitige Verlassen von Demonstrationen durch das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gewährleistet ist, Menschen einzeln passieren.

Zusammengefasst ergibt sich für uns ein Bild der Ereignisse, das darauf schließen lässt, dass die Polizei durch mehrere parallel durchgeführte Maßnahmen ab ca. 19:45 Uhr damit begann, die grundrechlich geschützte Versammlung aufzulösen. Es erfolgten Maßnahmen mehr oder weniger zeitgleich im hinteren Drittel der Demonstration sowie in der Mitte. Dies durch Polizeieinheiten, die an neuralgischen Punkten der Demonstrationsroute postiert waren. Zumindest für das letzte Drittel der Demonstration lässt sich begründet vermuten, dass die Baustelle in Höhe der Neukölln-Arcaden als Einsatzmittel zur leichteren Auflösung der Demonstration genutzt wurde. Sonst lässt es sich für uns nicht erklären, weshalb die Route dort entlang führen konnte, vor allem nicht, weil die Polizei alle rechtlichen Mittel in der Hand hatte, um diese zu ändern. Endgültig zerschlagen wurde die Demonstration kurz nach 20:30 Uhr, als Polizeieinheiten den Frontblock stürmten.

Dies geschah alles vor der von der Polizei via Twitter proklamierten Auflösung der Demonstration durch die Demonstrationsleitung um 21:00 Uhr. Selbst nach eigenen Aussagen gibt die Polizei also zu, eine grundrechtlich geschützte Versammlung zerschlagen zu haben und somit auf eklatante Weise gegen das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit verstoßen zu haben. Außerdem konnte unser Team im vorderen Teil der Demonstration auch um 21:00 Uhr nicht feststellen, dass die Demonstration zu diesem Zeitpunkt von der Versammlungsleitung aufgelöst gewesen wäre. Nach deren eigenen Angaben via Twitter erfolgte eine Auflösung erst um ca. 21:30 Uhr. Auch zu den Beweggründen der Auflösung weisen die Veranstalter*innen auf verbreitete Falschmeldungen der Polizei hin (vgl. https://1mai.blackblogs.org/?p=1010).

Grundsätzlich hat die Polizei das Recht, Versammlungen bei unfriedlichem Verlauf aufzulösen. Dies muss zum einen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit folgen, zum anderen in einer Weise erfolgen, dass das den ehemaligen Versammlungsteilnehmenden erkennbar sein muss, um sich entfernen zu können. Weder im vorderen noch im hinteren Teil der Demonstration erfolgten Lautsprecherdurchsagen oder andere Kommunikationsversuche. Stattdessen konnten wir während der polizeilichen Auflösung der Demonstration massive Fälle von Polizeigewalt beobachten, die mehrere zum Teil Schwerverletzte zur Folge hatten. Von mindestens zwei Personen wissen wir, dass sie per Rettungswagen ins Krankenhaus zur weiteren Versorgung transportiert werden mussten.

Dies allein wäre schon Grund genug, die Auflösung der Demonstration als unverhältnismäßig einzustufen. Das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit der Teilnehmenden wurde durch den Einsatz eklatant verletzt. Der im Nachgang der Demonstration seitens der Verantwortlichen kolportierte Grund für die Auflösung der Demonstration ist, dass sich „der Schwarze Block“ nicht an die Abstandsregeln gehalten habe. Polizeipräsidentin Barbara Slowik äußerte in einem Interview mit dem RBB, dass die Polizei Maßnahmen ergriffen habe, diesen aus der Demonstration zu entfernen, weil sich dieser nicht an die Vorgaben des Infektionsschutzgesetzes gehalten habe. Wir haben oben beschrieben, dass die Polizei maßgeblich verantwortlich dafür ist, dass diese Vorgaben von allen Teilnehmer*innen nur schwerlich, stellenweise überhaupt nicht eingehalten werden konnten. Insofern ist diese Behauptung unlogisch und scheint eine Schutzbehauptung dafür zu sein, die unverhältnismäßige Grundrechtsbeschränkung sowie den brutalen Polizeieinsatz medial zu rechtfertigen.

Nach §16 VersFG BE hat die Polizei das Recht, Personen von der Teilnahme an einer Demonstration zu verweigern oder zu beschränken, wenn von ihr eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht. Diese war wie beschrieben zu keinem Zeitpunkt gegeben. Nach §16 Abs.2 haben Personen, die ausgeschlossen wurden, sich unverzüglich von der Demonstration zu entfernen. Diese Möglichkeit war zu keinem Zeitpunkt gegeben, weil der Ausschluss – unabhängig von seiner Rechtmäßigkeit, nie kommuniziert wurde.

Nur am Rande sei noch angemerkt, dass der seitens der Polizei proklamierte Ausschluss des angeblichen „Schwarzen Blocks“ faktisch nicht nachzuvollziehen ist. Die Maßnahmen richteten sich nicht nur gegen einen Teil der Versammlung, den sogenannten „Schwarzen Block“. Die Demonstration wurde zeitgleich an zwei Stellen angegriffen. An einer Stelle wurde ein Lautsprecherwagen gestürmt. Kurz darauf folgte der Angriff auf die Spitze der Demonstration, an der sich kein „Schwarzer Block“ befand.

 

Statement – Ein schwarzer Tag für die Versammlungsfreiheit

Wir sind schockiert über die Ereignisse rund um den 1. Mai in Berlin. An diesem Tag hat die Einsatzführung der Berliner Polizei unter der Leitung von Stephan Katte unter Beweis gestellt, dass sie bereit ist, das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit buchstäblich mit Füßen zu treten.

Wie wir mit unserem Bericht klar zeigen, scheint es so gewesen zu sein, dass es nie die Absicht der Polizei war, die „Revolutionäre 1. Mai“- Demonstration an ihren Endpunkt auf dem Oranienplatz kommen zu lassen. Vieles spricht dafür, dass die Zerschlagung der Demonstration von langer Hand an den letzlich betroffenen Stellen geplant war. Zu den von uns geschilderten Ereignissen kommt hinzu, dass ca. drei Stunden bevor die Demonstration endgültig zerschlagen wurde, hochrangiges Personal den Ort des Angriffs auf die Spitze der Demonstration inspizierte (vgl. https://twitter.com/SpiedUpon/status/1388830209688883205). Außerdem erreichten uns Berichte, dass Menschen, die sich von der Demonstration entfernen wollten, nicht durch die Polizeisperren an den nächstgelegenen Brücken Richtung Kreuzberg gelassen wurden. Vieles spricht also dafür, dass es unbedingter Wille der Polizei war, dass die Demonstrierenden nicht nach Kreuzberg gelangten. Weshalb das Gebiet des ehemaligen MyFests trotzdem per Allgemeinverfügung in polizeilichen Ausnahmezustand versetzt wurde, bleibt uns unklar. Fest steht für uns aber, dass die Polizei an diesem Tag ein äußerst versammlungsfeindliches Bild an den Tag legte.

Wir wollen an dieser Stelle nochmal klar stellen, dass das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit ein hohes Gut ist, das vor allem die Möglichkeit zur Teilnahme an der politischen Debatte ermöglichen soll. Auch und vor allem auch für diejenigen, die nicht an parlamentarischen Debatten teilnehmen können oder wollen. Wenn diese Möglichkeit, wie am 1. Mai 2021 in Berlin geschehen, durch polizeiliche Maßnahmen unterbunden wird, ist dies eine erschreckende Entwicklung. Politische Partizipation bedeutet, Widersprüche zu formulieren, sichtbar zu machen und im öffentlichen Raum zu verhandeln. Diese Möglichkeit wurde von der Polizei unterbunden.

Damit trat die Polizei als eigenständige politische Akteurin in Erscheinung. Dies ist qua Gesetz, zu dessen Durchsetzung sie verpflichtet ist, explizit nicht ihre Aufgabe. Sie hat allein für die Einhaltung geltender Gesetzgebung zu sorgen. Dies hat sie an diesem Tag nicht gemacht. Stattdessen hat sie das Infektionsschutzgesetz und das neue Berliner Versammlungsgesetz als Legitimationsgrundlage für ihren unverhältnismäßigen und damit letzten Endes auch grundrechtswidrigen Einsatz verwendet, während sie sich gleichzeitig – wie gezeigt – mehrfach nicht an deren gesetzliche Vorgaben hielt.