If the kids are united – Auswertungspapier: Revolutionäre 1. Mai-Demo in Berlin 2023

Gut vier Monate sind seit der Revolutionären 1. Mai-Demonstration in Berlin vergangen und wir wollen die Gelegenheit nutzen, einen kurzen Rückblick auf die Demo in diesem Jahr zu werfen und einen Ausblick aufs nächste Jahr zu wagen…

1. Zur Ausgangslage: Die Erste-Mai-Demo als zentraler Bezugspunkt antikapitalistischer Kritik
Die Revolutionäre 1. Mai-Demo in Berlin findet seit über 35 Jahren in unterschiedlicher Zusammensetzung und mit unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkten statt und war/ist für viele von uns ein wichtiger Politisierungsfaktor. Inhaltliche Klammer der Demo war stets der Anspruch über Detailkritik hinaus, das große Ganze in Frage zu stellen. Also die Frage, wie wir leben, arbeiten und uns gesellschaftlich organisieren wollen und die Erkenntnis, dass ein gutes und freies Leben im Kapitalismus nicht möglich ist, weil dort nicht der/die Einzelne und deren Bedürfnisse zählt, sondern nur die Verwertbarkeit und der Profit. Der Mensch ist im Kapitalismus halt nur Mittel zum Zweck und nur in seiner Rolle als Konsument und Arbeitskraft interessant. Die Revolutionäre 1. Mai-Demo hat es gut verstanden, diese Grundfrage in den Fokus zu stellen, nämlich in welcher Gesellschaft wollen wir leben, wie soll der gesellschaftlich erwirtschaftet Reichtum verteilt werden und wie können wir allen ein würdiges Leben ermöglichen?

Auch in den Zeiten der Krise der Linken kommen regelmäßig bis zu 20.000 Menschen zur Demo in Berlin und beteiligen sich auf unterschiedliche Art und Weise, bringen ihre politischen Kampagnen, Projekte und Inhalte ein und zeigen, dass eine andere Welt nötig und möglich ist. Die Revolutionären 1. Mai-Demos in zahlreichen Städten haben in der bundesdeutschen (radikalen) Linken eine Sonderstellung. An keinem anderen Tag des Jahres finden sich so viele Menschen zusammen, die gegen Ausbeutung und Unterdrückung auf die Straße gehen und den Kapitalismus selbst in Frage stellen. Diese besondere Stellung muss aus unserer Sicht erhalten, verteidigt und wenn möglich ausgebaut werden. Sie gibt uns die Möglichkeit wieder mehr das große Ganze in den Fokus zu setzen und zu zeigen, wir sind mit unserer Kritik am Kapitalismus nicht allein, auch viele andere Menschen haben die Hoffnung nach einer befreiten Gesellschaft noch nicht aufgegeben.

Gleichzeitig stellen wir uns die Frage, warum es bislang nie wirklich gut gelungen ist, über den Tag hinaus Themen, Kampagnen und Projekte die auf der Demo eine zentrale Rolle gespielt haben, in unsere täglichen Kämpfe zu übertragen und interessierte Menschen in unsere praktische Arbeit einzubinden. Wie kann es sein, dass am 1. Mai Zehntausende auf die Straße gehen und gegen Kapitalismus, Krieg und Ausbeutung demonstrieren, aber daraus kaum politisches Kapital geschlagen werden kann? Wir sehen hier einen deutlichen Widerspruch zwischen Anspruch und Realität.

Häufig erleben wir in der bundesdeutschen Linken ein Entweder-Oder. Entweder die Kritik verbleibt auf einer theoretischen Ebene und alles, was uns nicht der Revolution näherbringt, wird als Reformismus abgetan. Oder aber es wird sich im Klein-Klein verloren und in der Basisarbeit aus Angst Leute zu verschrecken auf einen allzu deutlichen Antikapitalismus verzichtet. Wir glauben beides ist wichtig. Die tägliche Arbeit in unseren Kiezen und Betrieben, die stetige Überzeugungsarbeit bei unseren Nachbarn, Kolleg*innen und Freund*innen, der mühsame Aufbau von realer Gegenmacht. Gleichzeitig müssen wir uns aber immer vor Augen halten, wo wir eigentlich hinwollen, nämlich zur klassenlosen Gesellschaft und diese wird nur durch einen Bruch und Überwindung des Kapitalismus zu erreichen sein.

Die Perspektive einer erfolgreichen radikalen linken Politik ist aus unserer Sicht nur dann gegeben, wenn wir es schaffen unsere Alltagskämpfe mit der großen Frage nach einer anderen Gesellschaft zu verknüpfen, auch wenn klar ist, dass diese neue Gesellschaft wohl noch ein wenig auf sich warten lässt. Wir wollen keinen grünen Kapitalismus, aber Revolutionsromantik bringt uns auch nicht weiter. Daher plädieren wir für eine Politik, die die täglichen Abwehrkämpfe verbindet mit der Forderung nach einer anderen Gesellschaft, frei nach Cato und Rosa Luxemburg: „Im Übrigen sind wir der Meinung, dass der Kapitalismus zerstört werden muss!“

Gerade der 1. Mai eignet sich nach unserer Ansicht besonders gut für eine solche Politik. Das Zusammenbringen alltäglicher Kämpfe und Organisierungsversuche mit dem Anspruch auf eine Überwindung des Kapitalismus. Das gemeinsame Zusammenkommen vieler Menschen und die Erkenntnis, dass wir doch nicht so allein und vereinzelt sind, wie es uns die Herrschenden gern weißmachen wollen. Und schließlich die gemeinsame Erkenntnis, dass der Kapitalismus nicht das Ende der Geschichte sein darf, wenn es denn noch eine lebenswerte Zukunft geben soll.

2. Zur Demo 2023 – zwischen Happening und Klassenkampf
Nach einer kurzen Phase der Stagnation und des Experimentierens während der Corona-Zeit, ist die abendliche Berliner Demo auch zuletzt wieder die größte bundesweite Veranstaltung am 1. Mai gewesen. Keine andere Veranstaltung am 1. Mai hat so viele Menschen angesprochen, wieder haben sich ca. 20.000 Menschen beteiligt. Dies halten wir erstmal für einen großen Erfolg und es zeigt aus unserer Sicht, wie attraktiv und aktuell nach wie vor die Demo für viele tausend Menschen ist. Trotz ritualmäßiger Abgrenzung der etablierten Politik und sensationsgeiler Berichterstattung in den Medien ob und wenn ja, wie krass es denn diesmal wieder knallen wird, hat sich die Demo als eine Art gemeinsamer Abschlussveranstaltung verschiedenster Aktivist*innen und Aktionen der (radikalen) Linken entwickelt. Egal ob wir vormittags auf den klassenkämpferischen Block der Gewerkschaftsdemo gehen, oder in den Grunewald fahren, um die Reichen und Mächtigen zu besuchen oder wir in unseren Stadtteilinitiativen ein Straßenfest oder ähnliche Veranstaltung organisiert haben, am Abend gehen wir alle zur Revolutionären 1. Mai-Demo. Wenn wir uns vor Augen halten, dass es Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre mehrere teils konkurrierende Revolutionäre 1. Mai-Demos gegeben hat, halten wir diesen Ausdruck von Gemeinsamkeit und Stärke für sehr wichtig und richtig.

Kaum an einem anderen Tag sind wir in der Lage so viele unterschiedliche Menschen anzusprechen und zu mobilisieren. Damit hat diese Demo auch einen deutlich größeren Handlungsspielraum, als viele andere linke Aktionen. Allerdings schaffen wir es immer weniger, diesen Handlungsspielraum auch zu nutzen. Die Bullen haben es – nach einer Phase der Nichtanmeldung der Demo –  die vergangenen Jahre immer besser geschafft die Demo zu befrieden bzw. Handlungsspielräume einzugrenzen. Das war dieses Jahr sehr deutlich ab dem Kottbusser Tor zu sehen. Ein großer Teil der Demo war eine Art von Wanderkessel, Aktionen aus der Demo heraus oder aus dem Umfeld der Demo haben so gut wie nicht stattgefunden. Insbesondere in der Auflösesituation mussten wir eine gewisse Ohnmacht erleben. Für das Bündnis war klar, dass die Demo (nach den Erfahrungen aus dem letzten Jahr) nicht am Oranienplatz enden soll, weil da die Bullen dort bereits einen großen Kessel vorbereitet hatten. Gleichzeitig wollte das Bündnis die Route nicht zu sehr verkürzen und den symbolischen Punkt der „Kotti-Wache“ mitnehmen. Was wir dann im Folgenden erlebt haben, kommt einer Patt-Situation nahe. Es waren zu viele Menschen auf engen Raum, als dass die Bullen frei agieren konnten. Gleichzeitig waren so viele Bullen vor Ort, dass sich aus der Demo heraus keine wirkliche Gegenwehr entwickeln konnte.

Dies hat sicher etwas mit der allgemeinen Schwäche der linken Bewegungen zu tun, aber auch damit, dass das Bündnis strukturell schlecht aufgestellt war und sich wenig handlungsfähige Strukturen an der Demo beteiligen (siehe Punkt 3.). 

Aus unserer Sicht kann die Demo nur einen allgemeinen Rahmen stellen. Wie dieser Rahmen dann von den Menschen genutzt wird, entscheiden diese für sich selbst. Es gab Jahre, wo im Umfeld und im Schutz der Demo, Hausbesetzungen oder andere direkte Aktionen stattgefunden haben. An diese Jahre sollten wir anknüpfen. Wir sollten die Demo und die Möglichkeiten, die diese Demo bietet, wieder stärker in Fokus setzen. Klar ist aber auch für uns, dass sich der Erfolg der Demo nicht daran messen lässt, ob und wie doll es geknallt hat. Militante Auseinandersetzung darf aus unserer Sicht nicht der eigenen Selbstbestätigung bzw. einer „Erlebniskultur“ dienen, sondern muss vermittelbar sein und nicht zum Selbstzweck verkommen. Viel wichtiger als die Frage, wie viele Bullen verletzt wurden und ein wie hoher Sachschaden entstanden ist, ist die Frage wie viele Menschen wir erreichen konnten, ob gesellschaftliche Diskurse beeinflusst werden konnten und ob die Linke durch die Demo eher gestärkt oder geschwächt wurde.

3. Zum Bündnis – Spagat zwischen Anspruch und Realität
Festzuhalten ist zunächst, dass es eine sehr große Differenz gibt, zwischen der Vorbereitung und Organisation der Demo und der tatsächlichen Beteiligung. Das Bündnis hat es leider nicht geschafft stark zu wachsen und mehr Strukturen einzubeziehen. Das führt dazu, dass Arbeit und Verantwortung auf immer die gleichen Schultern verteilt wird und es weniger Raum für Kreativität, Austausch, Debatte und den Ausblick über den Tag hinaus gibt. Anders gesagt: Das Bündnis schafft es, die Demo vorzubereiten, für gute(n) Auswertung/ Erfahrungsaustausch und Wissenstransfer oder gar Ausweitung der Aktivitäten fehlt es aber leider an Kraft und Zeit. 

Diese Schwäche war dieses Jahr auch deutlich auf der Demo zu sehen. Abgesehen vom Frontblock gab es keine weiteren Lautis, was gerade in der Auflösesituation sehr ungünstig war. Ein Großteil der Menschen auf der Demo hat es schlicht nicht mitbekommen, dass die Demo beendet wurde, weil dies durch entsprechende Lautidurchsagen nur im vorderen Teil der Demo kommuniziert werden konnte.

Wir glauben, dass die schwache Besetzung des Vorbereitungsbündnisses nicht daran liegt, dass die Notwendigkeit der Demo nicht mehr gesehen wird, im Gegenteil (siehe Punkt 1. und Punkt 2.). Etwas überspitzt gesagt, alle finden die 1. Mai-Demo gut, aber kaum jemand möchte die Demo vorbereiten/mitgestalten. Wir sollten uns gemeinsam die Frage stellen, woran das liegt und was wir tun können, um das Bündnis zu vergrößern bzw. handlungsfähiger zu machen.

Zu den ersten Überlegungen gehört, frühzeitig Möglichkeiten zu schaffen, leichter an das Bündnis heranzutreten, die Ansprechbarkeit und Transparenz zu erhöhen. Außerdem Mitmachangebote jenseits der eigentlichen Orgatreffen zu schaffen (offene Treffen, zu Beteiligungsmöglichkeiten am Tag selbst anregen, es auch Einzelpersonen und losen Strukturen zu ermöglichen, sich einzubringen usw.) Wenn es uns dann auch weiterhin gelingt, unsere Unterschiedlichkeiten als Stärke und nicht als Bedrohung der eigenen Position zu begreifen und die von Repression Betroffenen nicht alleine lassen, wäre das schon sehr vielversprechend. 

4. Ausblick 2024 – was tun?
Wir möchten unsere Einschätzungen zur Demo und mögliche Ideen fürs nächste Jahr gerne mit interessierten Gruppen/Strukturen/losen Zusammenhängen diskutieren und gemeinsam sehen, ob und wie wir uns gut in die Demo einbringen können. Wir überlegen daher, im Oktober/November ein entsprechendes Treffen zu organisieren. Schreibt uns eure Ideen und ob ihr Interesse an der Teilnahme habt. 

Bei diesem Treffen soll es aus unserer Sicht um eine gemeinsame Auswertung und vor allem um einen Ausblick fürs kommende Jahr gehen. Was sind wichtige Themen für die Demo, wie schaffen wir es mehr Handlungsfähigkeit zu bekommen und wie kann am besten auf die Bullenstrategie reagiert werden? Wer sind wichtige Verbündete und wie können diese stärker in die Vorbereitung bzw. die Aktivitäten am Tag selbst eingebunden werden? Wie schaffen wir es Unterschiedlichkeiten besser auszuhalten und dieser mehr als Stärke denn als Bedrohung zu begreifen? Wie kommen wir endlich wieder in die Offensive?

Aus unserer Sicht geht dies nur gemeinsam und nicht gegeneinander. Wir halten nach wie vor die Revolutionäre 1. Mai-Demo für einen zentralen Part linker Politik in Berlin und darüber hinaus und stimmen nicht ein in den Chor derjenigen, die nur Gründe suchen, warum die Demo nicht mehr das ist was sie (vielleicht) einmal war und eh schon immer alles besser wussten.

Wir glauben, dass wir nur in unseren gemeinsamen Kämpfen lernen und wachsen können und dass die aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse eine große Revolutionäre Demo am 1. Mai (und an jedem anderen Tag im Jahr) bitter nötig macht!

In diesem Sinne – nicht jammern, sondern gemeinsam handeln!
Für einen Revolutionären 1. Mai 2024!

Zukunftswerkstatt Berlin

Die Zukunftswerkstatt ist ein loser Zusammenschluss von Menschen, die sich der radikalen Linken zugehörig fühlen und seit vielen Jahren die 1. Mai-Demo in Berlin mitorganisiert haben. Die Zukunftswerkstatt war Teil des Revolutionären 1. Mai-Bündnisses in diesem Jahr. Bei Anregungen und Kritik, schreibt uns! Kontakt: zukunftswerkstatt [at] systemli.org