Revolutionärer 1. Mai in Berlin: Eine Selbstkritik, eine Aufforderung und ein Vorschlag.

Die Demonstration zum revolutionären 1.Mai in Berlin ist so berühmt wie berüchtigt, so klischeehaft verklärt wie leidenschaftlich gehasst, so groß und voll, wie sie zugleich leer und enttäuschend ist. Der folgende Text handelt von dieser Demonstration. Und er handelt davon, wie sie nicht mehr sein darf, wenn sie wieder etwas werden will. Er handelt aber auch davon, wie wir sie neu erfinden wollen, damit sie weiter besteht und ihre Rolle erfüllen kann.

Wir als radikale linke | berlin gehörten, seit es unsere Gruppe gibt, immer zu den Organisator*innen der Revolutionären-1.-Mai-Demonstration. Einige von uns haben schon viele Jahre, bevor wir uns als Gruppe zusammengefunden haben, an dieser Demo mitgearbeitet. Man kann sagen, wir haben diese Demonstration ein wenig „geerbt“. Und dieses Erbe war ein schwieriges.

Denn zum einen arbeiten wir heute nach der Regel, Großevents nicht in den Mittelpunkt unseres politischen Projekts zu stellen, sondern den realen Aufbau von Gegenmacht in Basisstrukturen. Zum anderen aber war die Demo stets an eine immense Erwartungshaltung gebunden: Da muss es knallen und rumpeln und überhaupt.

Diese Erwartungshaltung, die viele – auch wir – immer an diese Demonstration herangetragen haben, stand in einem totalen Missverhältnis zu dem, was dann am Ende herauskam: ein in weiten Teilen entpolitisiertes Spektakel.

Wir haben über Jahre hinweg versucht, diese Demonstration zu politisieren, ihr eine antagonistische Stoßrichtung zu geben. Die Ankündigung, aus der Demonstration heraus ein „Soziales Zentrum“ zu erkämpfen, war ein solcher – gescheiterter – Versuch. Die Durchsetzung der Demonstration ohne Anmeldung ebenfalls.

Im vergangenen Jahr scheiterte der Versuch, eine sinnvolle Demonstration aufzustellen, erneut. Deshalb wollen wir einige Überlegungen formulieren, was dieses Jahr anders laufen könnte.

(I) Wir denken nicht, dass unter den gegebenen Bedingungen eine politische Demonstration in Kreuzberg möglich ist. Die Aufstandsbekämpfungsstrategie von Bezirk und Senat – Maifest und MyGörli – hat den Kiez an diesem Tag in ein Ballermann-Festival verwandelt, in dem jede Demonstration im Suff-Techno-Konsum-Spektakel untergeht – oder noch schlimmer, als Teil des besonders coolen Berliner Tourismus-Charmes erscheint. Wir schlagen deshalb vor, die Demonstration dieses Jahr zu verlegen – auch um dem Senat und dem Bezirk die Legitimation für dieses Fest zur Folterung der Anwohner*innen zu nehmen. Als Ort der Demonstration schlagen wir Friedrichshain vor – auch weil es inhaltlich passt. (siehe Punkt III).

(II) Damit verbunden ist, dass wir nicht mehr auf den „Selbstläufer 1. Mai“ setzen, also darauf, dass sowieso immer tausende Schaulustige einfach mitlaufen, weil sie ohnehin zum Feiern in der Gegend sind. Wir wollen an der Basis mobilisieren und wollen Menschen erreichen, die sich gezielt an einer politischen Demonstration beteiligen möchten. Die bloße Quantität der Teilnahme halten wir nicht für das entscheidende Kriterium.

(III) Wir wollen jenes Thema, zu dem nicht nur wir, sondern sehr viele Initiativen und Gruppen in dieser Stadt arbeiten, zum Motto der
Demonstration machen: Gegen die Stadt der Reichen. Wir wollen thematisieren, in welcher Stadt wir eigentlich leben und wem sie gehört. Die Angriffe auf Freiräume, die Verdrängung von Menschen aus den immer teurer werdenden Trendbezirken und die Dauerbesatzung von „Gefahrengebieten“ durch eine Armee von Bullen zählen hier genauso dazu wie der Ausschluss von Geflüchteten aus allen Lebensbereichen, die Touristifizierung der Nachbarschaften, das Elend, in dem Erwebslose hier dahinvegetieren müssen, die mangelnde Infrastruktur (Kita-Krise, für alle leistbare Mobilität) – und vieles, vieles mehr.

(IV) Wir wollen eine Demonstration, in der sich verschiedene Spektren der Linken wiederfinden. Dafür wollen wir den Rahmen stellen. Von den Mieter*innen-Inis über feministische Gruppen, von Autonomen bis zu Gewerkschafter*innen, Geflüchteten- bis Klima-Bewegung. Der 1. Mai ist unser aller Tag, seine Geschichte ist unsere Geschichte. Alle, die sich beteiligen wollen, sollen sich beteiligen. Mit eigenem Material, eigenen Inhalten, eigenem Lauti.

(V) Ebenfalls wollen wir an der Ästhetik des Auftritts arbeiten. Militanz ist eine Haltung, kein Kleidungsstil. Solange diese Haltung nicht massenfähig ist, müssen wir nicht so tun, als sei sie es. Klar, wir wollen eine Demonstration, die sich gegen Angriffe verteidigen kann, gewährleisten. Und klar, von uns wird es niemals Distanzierungen von Aktionen aus oder am Rande der Demonstration geben. Doch in erster Linie ist uns eine politische Demonstration wichtig, die klare Positionen vermittelt. Was darüber hinaus geht, hängt von der Initiative der Teilnehmenden ab.

Insgesamt wollen wir eine Bitte formulieren: Es gab immer viel Kritik an den Organisator*innen dieser Demo. Damit meinen wir nicht die Hetze in den bürgerlichen Zeitungen, die ist uns willkommen. Aber auch von Genoss*innen. Nur ist es so: Die Orga stellt einen Rahmen. Der ist nichts ohne die selbstbestimmte Initiative der Menschen, die teilnehmen. Nehmt euch den Raum, nutzt diese Demonstration. Sie generiert viel Aufmerksamkeit – im Kiez und darüber hinaus. Das sollten wir gemeinsam füllen, um unsere Positionen zu vermitteln.

In diesem Sinne: Man sieht sich dieses Jahr im „Gefahrengebiet“ Friedrichshain.

Yasassin bir mayis
her biji yek gulan
lang lebe der 1. Mai

radikale linke | berlin – März 2019